Samstag, 3. Dezember 2005

Millionen Tote - Alaaf und Helau !

Nach den bitteren und schweren Gedanken über die Todesstrafe folgt eine weitere Episode abgrundtiefer Einblicke in mein geistiges Innenleben. Es geht um uns Deutsche und das Nationalbewusstsein. Entschuldigt die teilweise derbe Sprache, ich versuche damit, meinen Ärger über gewisse Dinge in Worte zu fassen.
Vorhang auf...

Der 11.11. ist den Deutschen bekannt als Beginn der Karnevalsaison. Schunkeln, singen, lachen, fröhlich sein. Auf Knopfdruck fröhlich sein. Auf einmal sind alle gaaaanz lustig und haben sich gaaaaaaanz doll lieb.
In Australien und England wird der 11.November anders begangen. Da ist Remembrance Day. Um Punkt 11 Uhr steht das öffentlich Leben für zwei Minuten still. Züge halten an, Autos auf den Straßen stoppen und die Fahrer steigen aus, alle Kirchenglocken erklingen zum Gedächtnis an die Toten des ersten Weltkrieges und der anderen, vielen Kriege. Hintergrund: Am 11. November 1918 um 11 Uhr wurden alle Kampfhandlungen des ersten Weltkrieges eingestellt.
Es ist ein respektvolles Gedenken, kein triumphatisches Großmacht-Gehabe, denn es waren Menschen, die dort im Dreck starben. An sie wird erinnert.

Es waren zwei sehr unterschiedliche Bilder, die sich mir da aufgedrängt haben. Auf der einen Seite sah ich vor meinem geistigen Auge die Menschen hier, die am 11.11. innehalten und in unserer hektischen Welt Menschen gedenken, die vor langer Zeit ihr Leben ließen und nicht gerade auf schöne Art und Weise aus dem Leben schieden. In dieses Bild schob sich dann jäh ein pappbenaster Jeckenclown aus dem Rheinland. Weiß geschminktes Gesicht, alberne rote Perücke, er bläst in eine Tröte und grölt besoffen „Helau“ in knopfdruckartiger Ekstase. Ihr merkt schon, ich bin nicht so der Karnevalsmensch. UND heute ein bisschen ätzend gelaunt.

Und jetzt wird man sich bestimmt denken:
„Das Datum ist eben Zufall, was hat das bitte miteinander zu tun ?“
Und beim ersten Teil stimme ich voll und ganz zu. Es ist Zufall. Aber auch wenn Karneval und der Remembrance Day absolut nix miteinander zu tun haben, führt mir der Zufall, dass beide Ereignisse gleichzeitig stattfinden, mal wieder vor Augen, wie verkrüppelt die deutsche Selbstauffassung ist. Sicher, „wir“ Deutschen haben den Volkstrauertag. Aber um ehrlich zu sein: Ich musste im Internet nachschlagen, um zu schauen, ob der wirklich für die Toten der Kriege gedacht ist. Und wann er überhaupt stattfindet. So lebendig ist die Kultur des Gedenkens bei uns.

In Verdun werden heute noch jedes Jahr Knochen und sonstige Überreste beim bestellen der Äcker zu Tage gefördert. Können Knochen eindeutig einer Nation zugehörig identifiziert werden (z.B. durch Uniformreste oder Ausrüstung), werden sie gesondert aufbewahrt. Einmal im Jahr kommen dann Veteranen des ersten Weltkrieges aus Australien (!!!) nach Frankreich, um ihre Kameraden zu beerdigen. Man muss sich das mal vorstellen: Die wenigen, die es noch gibt, sind weit über 90 und kommen trotzdem noch jedes Jahr nach Verdun, um ihren Kameraden die letzte Ehre zu erweisen. Es liegen auch noch tausende deutscher Soldaten unter der Erde Verduns. Aber ich sehe keine deutschen Veteranen, sofern noch welche leben, nach Verdun tingeln.
Viele werden vermutlich die Richtung, in die mein heutiger Eintrag läuft, nicht mögen. Mir ist voll und ganz bewusst, dass ich mich auf seeeeehr dünnem Eis bewege mit dem was ich schreibe.
Sehr schnell wird man als braun abgestempelt, kommt das Thema Soldaten und Gedenken oder Nationalstolz auf. Es sind Themen, die leider fast nur von den hirnamputierten Vollspastis, diesem braunen Gesocks, immer wieder aufgegriffen werden. Und dann natürlich immer mit einem radikalen und ideologischen Touch, bei dem jedermann, der Hirn hat zum Denken, die Stacheln ausfährt. Es ist zum Teil diesen zurückgebliebenen braunen Arschgeigen zu verdanken, dass gewisse Themen von den Deutschen auch heute noch gemieden werden bzw. tabu sind. „Flagge zeigen“ ist nach wie vor nur bei Ereignissen mit schwerwiegender Bedeutung für Deutschland möglich: Entweder wenn ein Haufen überbezahlter Leute einem Ball hinterherjagt oder wenn ein überbezahlter Mann in einem roten Auto ganz schnell im Kreis fährt. Ja, dann zückt der Deutsche mit bebender Brust seine Flagge und hängt sie aus dem Fenster.
Es wird vermutlich noch ein Weilchen dauern, bis sich das einigermaßen normalisiert hat. Wir Deutsche haben schon ein kaputtes Verhältnis zu unserem Land, was ? Wie lange wird es wohl noch dauern, bis man wieder ohne schief angeschaut zu werden „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ sagen darf ?
In diesem Sinne möchte ich zum Abschluss meinen Erzfeind König Karneval zu Worte kommen lassen. In der letzten Saison bin ich beim zappen (ja, WIRKLICH beim zappen) über die Sitzung in Mainz gestolpert. Dort sprach gerade der „Bote vom deutschen Bundestag“, der alle möglichen politischen Dinge durch den Kakao zog. Einer seiner Witze hat sich bei mir eingebrannt, weil er mit brutaler Ehrlichkeit die Realität beschreibt.

Meine Damen und Herren, es spricht der Bote vom deutschen Bundestag:

„Die Deutschen und ihr Nationalbewusstsein.... fragt mal einen Italiener:
´Bist Du Italiener ?´
´Si, si, bella Italia !´
Fragt einen Franzosen:
´Bist Du Franzose ?´
´Oui, vive la France !´
Und fragt einen Deutschen:
´Bist Du Deutscher ?´
´Ja, Entschuldigung !“
Ling611 - 5. Dez, 15:32

Pilgerer nach Verdun

Hm, Du siehst keine deutschen Veteranen nach Verdun pilgern...? Merkwürdig?! Schon mal drüber nachgedacht, woran das liegen könnte? Hast Du Dich je danach erkundigt?
Ich habe einmal höchstpersönlich Kriegsgräberpflege für die Gräber des 1. Weltkriegs in Verdun gemacht und weiss, dass es Veranstaltungen/Gedenkfeiern und sowas dort gibt - auch mit Teilnahme von Deutschen (Veteranen, sofern sie noch leben!)!

chickenhawk - 5. Dez, 23:32

Über die Ziellinie

Gut, ich rudere etwas zurück. Ich muss zugeben, an dem Tag, als ich den Artikel geschrieben habe, war ich mies gelaunt. Das hat mich fahrlässig werden lassen und ich habe wirklich nicht recherchiert.
Trotzdem. Selbst wenn es deutsche Veteranen gibt, die dorthin pilgern; Es ist in der (deutschen) Öffentlichkeit unbekannt ! Das meinte ich mit "so lebendig ist die Kultur des Gedenkens". Es gibt diese Kultur zwar, aber irgendwie "im Untergrund", nicht an der Oberfläche des durchschnittlichen deutschen Bewusstseins. In anderen Staaten wird damit viel offener und natürlicher umgegangen. Es gibt diese Kultur in Deutschland zwar, gehört ja zum seriösen Umgang mit der Vergangenheit, aber irgendwie gibt es sie dann doch nicht. Das ist ein wenig schizophren, und genau das stört mich.
Nils (Gast) - 12. Dez, 17:51

Nationalstolz?

Hi Julian!

Ich stimme dir zu, daß das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation nach wie vor gestört ist. Allerdings würde ich es in Bezug auf deinen Artikel eher bevorzugen, wenn alle Nationen ihren Nationalstolz ein für allemal aufgeben würden. Zugegeben, mein Standpunkt ist etwas ungewöhnlich - als doppelter Staatsbürger kommt einem so ein Konstrukt ungleich unsinniger vor...

Aber warum sollte man stolz darauf sein, in der einen oder der anderen Nation zu leben? Dafür, daß man in einer Nation geboren wurde, kann man nichts - keine Eigenleistung. Und genauso wenig wie ich stolz darauf bin, wenn unsere Nationalelf oder unser Schumi gewinnen, bin ich stolz darauf, daß Deutschland Exportmeister ist. Froh, glücklich, je nachdem vielleicht sogar euphorisch - ja sicher! Aber liege ich damit falsch, daß Stolz auf Eigenleistung beschränkt sein sollte?

Das Problem, welches ich mit Gemeischaftsstolz habe, ist, daß sowas sehr leicht zu Zerrbildern und Mißverständnissen und letzlich Konflikten führt. Wenn Nationen vor Stolz nicht mehr in der Lage sind, ordentliche Aussenpolitik zu machen, dann ist ein Konflikt (oder Krieg) doch fast schon vorprogrammiert...

Es muß doch eine andere Möglichkeit als Nationalstolz geben, ein gesamtes Volk an einem Strang ziehen zu lassen, oder?

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